Moderat oder radikal?
Die E-Bike Entwicklungen gehen rasant voran. Manche Neuerungen kommen moderat, andere radikal daher. Das erste E-Bike von Spezialized, das Turbo Levo, hat auch 2020 eine moderate, gemäßigte Geometrie. Seit seinem Erscheinen 2015 ist es das E-Bike für jedermann, x-facher Testsieger ohne radikale Ansätze. Anders das 2020er Spezialized Turbo Kenevo: Mit extremem Geometriemaßen was Radstand und Reach betrifft, polarisiert der lange, flache E-Freerider. Auch das neue Levo SL, die Leichtvariante des Levos – lest dazu meinen Bericht Spezialized Levo SL 2020 E-Bike Light Test – ist ein radikales E-Bike. Motorpower extrem zurückgenommen, dafür 4kg leichter und mit sehr kurzen Kettenstreben sehr agil. Wie wirken sich die Extreme am Trail aus? Wären gemäßigtere Innovationen besser, oder zeigen die radikalen Ansätze, wohin es in Zukunft geht?
Extreme Kenevo Geometrie zukunftsweisend?
Nach 1.500km habe ich mich an die extrem flache, lange Geometrie meines Kenevo Gen2 gewöhnt und weis sie zu schätzen. Hier der Link zu meinem Bericht Spezialized Turbo Kenevo Expert 2020 die ersten 500km. Das Levo (wie auch das Levo SL) ist da spürbar kürzer und höher. Dadurch fühlt sich das Levo bei niedriger Geschwindigkeit agil und spritzig an. Allerdings ist man nicht so „im“ Bike platziert wie beim Kenevo und fühlt sich nicht so souverän. Je höher die Geschwindigkeit umso besser ist die lange, flache Kenevo Geometrie. Das Levo SL hat bis auf die 18mm kürzeren Kettenstreben idente Geometriemaße zum normalen Levo. Dadurch, und durch die 4kg weniger, ist das SL noch agiler und geht wieselflink ums Eck. Anders als das Kenevo und Levo geht das SL viel leichter aufs Hinterrad. Dank der kurzen Kettenstreben. Hier die Geometrie im Vergleich:
Beim Klettern fallen die Geometrieunterschiede ebenfalls stark auf. Das neue Kenevo hat mit 77° einen sehr steilen Sitzwinkel. Bei den Levo’s sitzt man mit 74,5° deutlich weiter hinten. Hat man dann auch noch die kurzen SL Kettenstreben kämpft man mit einem aufsteigenden Vorderrad wenn es steil bergauf geht. Dazu kommt, dass das Levo generell dazu neigt, beim Klettern leicht zu wippen und sich in den Federweg zu setzten, wenn man das ProPedal nicht aktiviert. So ist bergauf die Kenevo Geometrie mit Abstand die Beste. Bergab für schnelle Piloten gewinnt ebenso das Kenevo. In welligen Terrain und flacheren Downhills kann das Levo punkten, wobei das SL das noch agilere, verspieltere Bike ist. In Zukunft denke ich, wird sich die Levo Geometrie dem Kenevo Gen2 annähern. Nichts spricht gegen einen steileren Sitzwinkel bei längerer Geometrie. Warum man das nicht schon beim Levo SL umgesetzt hat, wundert mich. Das SL wird, ebenso wie das Kenevo Gen2, nur von guten Bikern gefahren, da hätte man auch radikaler – länger, flacher und mit steilerem Sitzwinkel – bauen können.
Die ewige Frage 27,5er oder 29er?
Ich bin ein Fan der 29er Laufräder. Beim Testride mit dem Levo SL fällt auch wieder das gute Überrollverhalten sowie das Schwunghalten der großen Wheels aus Kurven heraus positiv auf. Das fehlt meinem 2020er Kenevo mit den kleineren 27,5er Wheels definitiv. Allerdings waren bei einem E-Freerider mit sehr langer, flacher Geometrie 29er Räder wahrscheinlich sogar Spezialized zu extrem. Wobei vorne 29“ und hinten 27,5“ mit angepasster Geometrie und vor allen mit etwas kürzeren Kettenstreben wäre schon interessant…. Für das Levo Konzept sind die 29er Laufräder jedenfalls perfekt.
Wie stark muss ein E-Bike Motor sein?
Mit dem Spezialized 2.1er Motor (adaptierter Brose) im Levo und Kenevo spielt Spezialized powermäßig in der Bosch/Shimano Liga. Das heißt, der Motor unterstützt mit 565 Watt maximal ca 4-fach meine Eigenleistung. Das ist wirklich stark, aber auch relativ schwer und verbraucht viel Akku, wenn man die hohe Unterstützung nutzt. Daher ist der Ansatz von Spezialized die Power zu reduzieren und ein leichteres Gesamtpaket zu schnüren goldrichtig und zukunftsweisend. Und wieder einmal ist der Ansatz von Spezialized radikal. Das neue SL Konzept macht das Bike um ca 4kg leichter. Allerdings hat man nur mehr 240 Watt zur Verfügung, was ca. einer Verdopplung der Eigenleistung entspricht. Der neue kleine Spezialized Motor hat jetzt 35Nm Drehmoment (statt 90Nm), was zur Folge hat, dass man bei Steigungen richtig Eigenleistung bringen muss. Um das Light Konzept durchgängig zu verfolgen, ist auch die Batteriekapazität mit 320 Wh (+ 160 Wh Range Extender im Flaschenhalter optional) gering gehalten. 100% Unterstützung entsprechen nur ca 20% beim Levo/Kenevo. Das heißt, man braucht deutlich mehr Eigenleistung und ist langsamer.
Man kann davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren sowohl die Motorleistung des neuen kleinen Motors, als auch die Batteriekapazitäten steigen werden. Daher ist der radikale Ansatz von Spezialized verständlich. Vor allen sind die 4 kg weniger deutlich spürbar und werden viele Biobiker aufs E-Bike bringen. Als E-Freerider muss der Motor für mich möglichst viele Downhills ermöglichen. Dabei ist mir eine gewisse Powerrange wichtig, da man gute und schlechte Tage, oder mehr oder weniger Zeit, hat. Bei kurzen steilen Rampen will ich auch nicht auf Motorleistung verzichten. Ich fahre die Unterstützung meist mit 30%, oft auch 50%, selten 70%, meine Maximumeinstellung. Ich wäre mit 50% als Maximum zufrieden, wenn die Übersetzung schärfer wäre (aktuell 11-42).
Eigenleistung x 3 (statt x 4) und 2 kg leichter wäre mein Ideal beim Kenevo!
Also wieder einmal (wie bei der Geometrie) wäre zwischen den zwei aktuellen Motorkonzepten Platz in der Mitte. Falls die Weiterentwicklung des SL Konzepts in den nächsten Jahren allerdings schnell geht, und der SL Antrieb an Power und Kapazität zulegt, würde ein Motor dazwischen wenig Sinn machen. Oder der SL Motor kommt dann in 2 Versionen, einer Power- (für Enduro/FR) und einer Lightversion (für XC/AM). Ich bin gespannt.
Fazit – viel Platz in der Mitte
Spezialized ist kein Freund des Kompromisses. Radikal muss es sein. Radikal leicht, wie das neue Levo SL. Oder radikal schnell, wie das Kenevo Gen2. Sowohl bei Geometrie als auch bei Motor ist viel Platz für gemäßigtere Ansätze. Jedes Konzept hat seine Vorteile, und diese vereint in neuen E-Bikes umgesetzt wird uns in Zukunft viel Freude bereiten. Aber zuerst wäre einmal ein 160mm E-Enduro fällig, und das schön radikal bitte sehr!
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